
Kritik: „Der Untergang des Hauses Usher“ – Ein düsterer Tanz zwischen Literatur und Graphic Novel Von Jean Dufaux & Jaime Calderón – Splitter Verlag, 25.03.2025
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Einleitung: Wenn Poe selbst die Feder führt
Edgar Allan Poes „Der Untergang des Hauses Usher“ ist ein Urgestein der Schauerliteratur – eine Geschichte, die mit ihrer Atmosphäre aus Verfall und psychischer Zerrüttung Generationen geprägt hat. Doch wie adaptiert man einen solchen Klassiker, ohne in bloße Nostalgie zu verfallen? Jean Dufaux („Murena“) und Jaime Calderón („Dylan Dog“) wagen sich mit einer ambitionierten Neuinterpretation in die Abgründe des Usher-Universums. Ihr Trick: Sie holen Poe selbst aus dem Grab, um ihn gegen sein eigenes Werk antreten zu lassen. Ein riskantes Spiel, das grandios scheitert – und gerade deshalb fesselt.
Handlung: Londoner Spielhölle vs. gothic nightmare
Damon Price, ein zwielichtiger Glücksspieler im viktorianischen London, verliert mehr als nur Geld: Nach einem ruinösen Abend zieht er seine Geliebte Nina in den Abgrund. Als ihn blutrünstige Gläubiger jagen, flüchtet er in eine schwarze Kutsche – ein Vehikel, das ihn direkt ins Haus Usher katapultiert. Dort erwartet ihn nicht nur der verfallende Familiensitz mit seinen „unsagbaren Schrecken“, sondern auch Edgar Allan Poe höchstpersönlich, der verzweifelt versucht, die Geschichte umzuschreiben, die längst über ihn hinausgewachsen ist.
Kunst: Calderóns düsterer Pinselstrich
Jaime Calderóns Zeichenstil ist eine Hommage an die Gothic-Horror-Tradition, doch alles andere als antiquiert. Seine detaillierten Panels des Hauses Usher – modrige Tapeten, geborstene Fenster, schattenverschlungene Korridore – lassen die Bedrohung förmlich aus den Seiten tropfen. Besonders gelungen: Die Darstellung der Metamorphose des Hauses als lebendiger Organismus, dessen Wände sich wie Lungenflügel heben. Calderón spielt mit Kontrasten: Während die London-Szenen in schmutzigen Sepiatönen gehalten sind, explodiert das Usher-Anwesen in krankhaftem Violett und Giftgrün. Ein visuelles Fiebertraum, das Poes Text kongenial interpretiert.
Story: Dufaux’ meta-literarischer Overkill
Jean Dufaux erweitert Poes Vorlage um eine postmoderne Ebene: Poe (hier als melancholischer Sidekick) kämpft gegen die Unausweichlichkeit seiner eigenen Erzählung. Während Damon Price im Haus gefangen ist, ringt der Autor mit seinem Schöpfer – eine Idee, die zunächst fasziniert, aber schnell an ihre Grenzen stößt. Die Dialoge zwischen Poe und Roderick Usher („Sie sind nur eine Marionette meiner Feder!“) wirken stellenweise wie ein akademisches Seminar im Gewand eines Comics. Doch genau darin liegt die Stärke: Dufaux entlarvt die Ohnmacht des Künstlers gegenüber seinem Werk. Wer kontrolliert hier wen? Der Wahnsinn ist nicht nur Motiv, sondern Methode.
Die Poe-Text-Beilage: Fluch oder Segen?
Der Band enthält den vollständigen Originaltext der Kurzgeschichte – eine noble Geste, die aber zum Problem wird. Denn im direkten Vergleich wirkt Dufaux’ Adaption wie ein überfrachteter Kommentar. Poes knappe, suggestiv-andeutende Prosa („Es gab eine lange, wilde Schreierei wie die Stimme der Hölle selbst“) verliert in der Comic-Version an Subtilität. Die dämonische Kutsche, bei Poe nur angedeutet, wird hier zur plumpen Plot-Maschine.
Stärken vs. Schwächen
✅ Atmosphäre zum Anfassen: Calderóns Kunst macht das Haus Usher zur unheimlichsten Comic-Kulisse seit Gigeres „Alien“.
✅ Mut zur Meta-Ebene: Die Dekonstruktion von Autorschaft ist erfrischend dreist.
❌ Überambitioniert: Zu viele Ideen (Spielerschicksal, Liebesdrama, Poe vs. Poe) zerfasern die Handlung.
❌ Nina als Staffage: Die Geliebte bleibt blass – ein typisches Opfer der „Women in Refrigerators“-Trope.
Fazit: Ein Fest für Gothic-Fans – mit Abstrichen
Dufaux und Calderón liefern keine einfache Poe-Adaption, sondern ein düsteres Gedankenspiel über Schöpfung und Kontrollverlust. Wer lineares Storytelling sucht, wird enttäuscht. Doch wer sich auf den surrealen Sog einlässt, erlebt Graphic-Novel-Kunst, die unter die Haut geht. Der Splitter-Verlag setzt mit der High-End-Hardcover-Umsetzung (680g schwer, 32x23cm) noch einen drauf: Dieses Buch fühlt sich an wie ein Relikt aus Ushers Bibliothek.
Bewertung: 4 von 5 Raben 🐦⬛🐦⬛🐦⬛🐦⬛🤍
Für: Poe-Puristen mit Sinn für Experimente, Gothic-Ästheten, Meta-Literatur-Fans.
Nicht für: Traditionalisten, die Poes Original unangetastet sehen wollen.
Tipp: Lesen Sie zuerst den Comic, dann Poes Text – und lassen Sie die beiden Versionen wie Usher und Madeline im Grabgewölbe miteinander ringen. 🖤